Das Anthropozän - Ein Blick auf die Welt im Zeitalter des Menschen

Von Leonie Zug

Auf einer wissenschaftlichen Konferenz im Jahr 2000 sorgt der niederländische Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen für verblüfftes Schweigen. Der Grund: Er wirft den Begriff des Anthropozäns in den Raum und ruft damit den Beginn einer neuen Erdepoche aus, die den Menschen als bestimmenden geologischen Faktor versteht. Im Zuge der Industrialisierung, Ökonomisierung und Globalisierung der Welt greift dieser deutlich in die Natur ein und hinterlässt irreversible Spuren und Schäden. Während die International Commission of Stratigraphy (ICS) noch überprüft, ob die vom Menschen herbeigeführten geologischen Veränderungen tatsächlich den Beginn eines neuen Erdzeitalters rechtfertigen, so hat sich die Idee des Anthropozäns und die damit verbundene Frage nach dem zunehmenden Einfluss und der Verantwortung des Menschen in der Öffentlichkeit bereits verfestigt. Nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Kultur- und Geisteswissenschaften, die Bildende Kunst und die Mainstream-Medien gehen der Bedeutung des Begriffs auf den Grund.

Atelier Hendrik Czakainski, Berlin Neukölln

In seinen Bildern und Installationen beschäftigt sich Hendrik Czakainski mit den Auswirkungen des menschlichen Handelns auf den eigenen Lebensraum. Im 21. Jahrhundert, das gemeinhin als „Jahrhundert der Städte“ bezeichnet wird, geht er dabei folgerichtig vom urbanen Lebensraum aus. Denn während zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur zehn Prozent der Weltbevölkerung in den Städten lebten, so ist heute bereits jeder zweite Mensch ein Stadtbürger. Diese steigende Tendenz wird sich nach Schätzungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen fortführen, sodass bereits im Jahr 2050 zwei Drittel der Bevölkerung in städtischen Siedlungen leben werden. Den rasantesten Zuwachs erleben dabei die sogenannten Megacities in Asien und Afrika. Nach Schätzungen leben inzwischen über eine Milliarde Menschen in den Elendsvierteln an den Randgebieten der Millionenstädte – eine genaue Erhebung der Bewohneranzahl ist bereits unmöglich geworden. Czakainski setzt sich in seinen Arbeiten mit dem Phänomen der Slums auseinander und legt damit den Fokus auf jenen Ort, an dem sich die Menschheit den Auswirkungen ihres Handelns in einer verdichteten und sich immer weiter zuspitzenden Form gegenübersteht. Mit wenigen Mitteln und Materialien schafft er in einem Prozess sich gegenseitig durchdringender Abläufe der Konstruktion und Dekonstruktion modellartige Nachbildungen der Slums, die dreidimensional aus der Bildoberfläche herausragen.

Die Arbeiten sind inspiriert von eigenen Erfahrungen vor Ort, aber auch von den immer  wieder reproduzierten Bildern in den Medien. Dabei stellen sie keine exakten Nachbildungen realer Orte dar, sondern sind reine Imitation der Formensprache der Elendsviertel. Sie besitzen unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte, gehen aber stets vom Menschen und dem Einfluss auf seine Lebenswelt aus. Ein immer wiederkehrendes und wichtiges Thema ist dabei die Darstellung der Masse und Überfüllung in den Slums. Die in den Bildern eng aneinandergebauten, sich teilweise überlagernden provisorischen Hütten zeugen von verheerendem Platzmangel und dem Zusammenleben Vieler auf engstem Raum. Entgegen einer systematischen, funktionalen Anordnung von Straßen und Plätzen entwickeln Slums eine Morphologie, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. In Czakainskis modellhaften Nachbildungen lässt sich die typische Eigendynamik solcher Orte nachempfinden: Der Mensch schafft sich Platz. Er flieht vor der ländlichen Armut und drängt in den städtischen Raum in der Hoffnung auf Arbeit und Sicherheit. Infolgedessen wird die ursprüngliche Ordnung angesichts der rasant wachsenden Stadtbevölkerung vom Menschen selbst zerstört und es entsteht Chaos. Die Masse transformiert die Stadt und setzt so bisher in ihr geltende Regeln außer Kraft. Das Leben unter solch prekären Bedingungen führt zu Verwahrlosung, Kriminalität, Vermüllung und Umweltzerstörung, mangelnder Hygiene und Krankheiten. Dabei stehen die Regierungen der Megacities einer nicht enden wollenden Anhäufung schier unlösbarer Probleme gegenüber, wobei Konzepte für eine geplante Stadtentwicklung weit entfernt scheinen. Stattdessen sind die Slums geprägt von Informalität, die in Czakainskis Arbeiten eindrücklich visualisiert wird. Seine intuitiv entstandenen Kompositionen stehen stellvertretend für die Gesellschaftsstruktur der Elendsviertel und die daraus folgenden Probleme jenseits eines bloßen Pessimismus. So kommt in manchen Bildern durch den bewussten Einsatz von Farbe auch die Lebensfreude und der unerschütterliche Überlebenswillen zum Ausdruck, die ebenfalls Charakteristika des urban-informellen Lebensraums darstellen. Nicht umsonst unterscheidet man bereits zwischen „Slums of Despair“, mit sich zunehmend verschlechternden Lebensumständen und „Slums of Hope“, bei denen sich eine positive Entwicklung erkennen lässt. So zum Beispiel im Falle Dharavi, das zum Zentrum der indischen Recycling-Industrie wurde und sich durch ein reges Wirtschafts- und Geschäftsleben auszeichnet.

Während bei den Slumdarstellungen hauptsächlich die Auswirkungen auf den Menschen und den städtischen Lebensraum im Mittelpunkt stehen, so thematisiert Czakainski in anderen Bildern die durch den Menschen herbeigeführten Transformationen der Landschaft wie z.B. im Ackerbau durch das Prinzip der Monokultur oder auch die industrielle Bebauung, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem Anthropozän-Gedanken stehen. Doch nicht nur inhaltlich sondern auch formal lassen sich die Arbeiten verknüpfen, haben sie doch Format und Perspektive gemein. Die Bildausschnitte suggerieren zunächst Neutralität. Sie wirken wie zufällig gewählt und deuten eine unendliche Fortführung der Stadt oder Landschaft nach ähnlichen Mustern an. Es scheint, als hätte man sich in einen beliebigen Abschnitt eines Satellitenbildes eingezoomt. Ein Vorgang, den wir in Zeiten von Google Maps und mobilem Internet ständig vollziehen. Er dient uns zur tagtäglichen Orientierung in unserer Welt. Dabei wechseln wir spielerisch zwischen Karten- und Luftbildansicht, setzen Markierungen, berechnen Routen. Zieht man die historische Bedeutung der Entstehung von Landkarten in Betracht, so wird deutlich, was uns die Macht der Gewohnheit leicht vergessen lässt: Karten waren (und sind) nicht nur bloße Abbildungen der Erdoberfläche, sondern stets ein Resultat der Aneignung und Strukturierung der Welt durch den Menschen. Sie dienen seit jeher als Grundlage für Entscheidungen von großer Tragweite und haben das Denken der sie benutzenden Menschen stets beeinflusst. Vor diesem Hintergrund vermittelt die kartographische Perspektive mehr als einen zunächst objektiv anmutenden Blick auf den menschlichen Lebensraum der Gegenwart. Stattdessen funktioniert sie als subtiler aber nicht weniger dringlicher Anstoß zur Reflektion des Menschen über seine verantwortungsvolle Position in Bezug auf den Zustand der Welt. Denn impliziert der Blick auf eine Karte doch vor allem stets zwei Fragen: „Wo befinde ich mich?“ und „Wo will ich hin?“

 

Literatur

  • Bennet, Jill: Leben im Anthropozän, aus der Reihe: dOCUMENTA (13): 100 Notizen - 100 Gedanken, Ostfildern 2013.
  • Crutzen, Paul J.: Geology of Mankind, in: Nature, Vol. 415, 3 Januar 2002.
  • Hehl, Rainer: Die Organisation des Informellen: Formation und Transformation der informellen Stadt mit Fallstudien in Rio de Janeiro 1960-2010, Zürich 2011.
  •  Messling, Markus; Läpple, Dieter; Trabant, Jürgen: Stadt und Urbanität – Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2011.
  •  Reder, Christian (Hg.): Kartographisches Denken, Wien / New York, 2012.
  •  Photography Jan Kuhr